
Autonomie
Konfliktbeispiele
Die Mutter äußert den Wunsch, dass das Kind mithilfe der Ergotherapie lernt, sich selbstständig anzuziehen. Das Kind hat daran kein Interesse, vielmehr möchte es das Fahrradfahren erlernen.
Die Klientin lehnt eine Anpassung der Prothese ab. Sie kann schon lange mit dem Rollstuhl gut umgehen und ist damit zufrieden. Die Tochter aber möchte die Prothesenversorgung für eine bessere Mobilität ( von dem Berge / Simon et. al. 2020)
Erläuterungen
Das Prinzip der individuellen Autonomie sagt aus, dass das einzelne Individuum frei in der Gestaltung der eigenen Lebensführung ist. Es muss in dieser Freiheit anerkannt und geschützt werden. Individuelle Freiheitsrechte besitzen uneingeschränkte Gültigkeit, solange aus deren Achtung nicht eine Gefahr für andere erwächst.
Bei der individuellen Autonomie handelt es sich um ein Abwehrrecht. Das bedeutet, dass Klient*innen grundsätzlich stets das Recht haben, indizierte Maßnahmen abzulehnen, selbst wenn sie sich damit schaden. Ein Anspruchsrecht in dem Sinne, dass Klient*innen Maßnahmen nach ihrer Wahl verlangen können, geht damit jedoch nicht einher (Bozarro 2022).
Das Prinzip der Autonomie beinhaltet einerseits das Verbot, autonome Entschlüsse der Klient*innen zu behindern oder zu übergehen, andererseits das Gebot, derartige Entscheidungen beispielsweise durch entsprechende Information und Aufklärung zu ermöglichen.In der klinischen Praxis findet es seinen konkreten Ausdruck im Konzept der informierten Einwilligung ( von dem Berge / Simon et. al. 2020).
Informierte Einwilligung bedeutet, dass ein*e Klient*in eine ausführliche und verständliche Darstellung der für sie*ihn in Betracht kommenden Maßnahmen erhalten sollte und er*sie dann, gemäß der eigenen Wertvorstellung und Präferenzen, in der Lage ist zu dezidieren, welche Behandlung durchgeführt werden soll (Bozarro 2022).
Eine aus therapeutischer Sicht indizierte Maßnahme darf lediglich mit Einwilligung der Klient*innen ausgeführt werden ( von dem Berge / Simon et. al. 2020). Wird diese nicht eingeholt, macht man sich im juristischen Sinne einer Körperverletzung strafbar und aus ethischer Sicht würde dies ein Verstoß gegen das moralische Recht auf individuelle Autonomie bedeuten. Es ist dabei sowohl irrelevant, ob es sich um eine harmlose oder risikoreiche Behandlung handelt, als auch, ob es um Diagnostik oder Therapie geht (Bozarro 2022).
Bedingung für die informierte Einwilligung ist sowohl eine angemessene Aufklärung als auch die Einwilligungsfähigkeit der Klient*innen ( von dem Berge / Simon et. al. 2020). Die betroffene Person muss mental in der Lage sein, die Ausführungen zu verstehen und eine Entscheidung zu fällen (Bozarro 2022).
Ziel der Aufklärung ist es, eine Verbesserung der Entscheidungskompetenz von Klient*innen herbeizuführen ( von dem Berge / Simon et. al. 2020). Die Klient*innen müssen ein hinreichendes Verständnis davon erhalten, was die vorgestellten Behandlungen bezüglich Nutzen und Risiken, alternative Behandlungen, Langzeitfolgen, Lebenserwartung, Lebensqualität usw. für sie bedeuten könnten (Bozarro 2022).
Das Aufklärungsgespräch soll in einer für die Klient*innen verständlichen Sprache erfolgen. Durch Rückfragen sollen Therapeut*innen sicherstellen, dass die Klient*innen die gegebenen Informationen verstanden haben. Zudem wird den Klient*innen im Rahme des Aufklärungsgesprächs ermöglicht, eigene Fragen zu stellen bzw. sollen dazu ermutigt werden.
Bei Forschungsprojekten müssen alle Beteiligten(Klient*innen, Angehörige, Ergotherapeut*innen oder andere Berufsgruppen) eine vollständige Aufklärung über Sinn und Zweck des Forschungsprojekts erhalten und auf dieser Grundlage aktiv die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme treffen können.
Einwilligungsfähigkeit besteht, wenn die Klient*innen durch das Aufklärungsgespräch in die Lage versetzt werden, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Therapie in Grundzügen nachzuvollziehen und sich auf dieser Basis für oder gegen die Therapie oder einzelne Maßnahme zu entscheiden. Die Einwilligungsfähigkeit ist nicht an ein bestimmtes Alter gebunden und mit Blick auf die konkrete Entscheidung zu bewerten ( von dem Berge / Simon et. al. 2020).
Klient*innen sollten in ihrer Entscheidung frei von äußerem Druck und Einfluss sein. Zwar dürfen alle Beteiligten mit dem*der Klient*in diskutieren und dabei auch Argumente für oder gegen eine bevorzugte Behandlungsoption anbringen, allerdings dürfen dabei keine suggestiven oder manipulativen Mittel zum Einsatz kommen.
Die Einwilligungserfordernis gilt auch bei Klient*innen, welche nicht bzw. nicht mehr einwilligungsfähig sind z.B. bei Kleinkindern, bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen sowie bewusstlosen Klient*innen.
Bei Klient*innen, welche einwilligungsfähig waren und dies lediglich temporär nicht mehr sind bzw. nicht mehr sein können, sollte ihr früherer mutmaßlicher Wille bei der aktuellen Behandlungssituation ausschlaggebend sein (Bozarro 2022). Bei nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen obliegt es den Sorgeberechtigten stellvertretend zum Wohle des Kindes zu entscheiden ( von dem Berge / Simon et. al. 2020).
Bei nicht einwilligungsfähigen Klient*innen werden Behandlungen also auf der Basis von Stellvertreterentscheidungen durchgeführt. Mögliche Varianten der Stellvertreterentscheidung sind:
- Die Patientenverfügung
eine schriftlich niedergelegte Willensäußerung in Bezug auf die von ihm*ihr gewünschte oder zu unterlassende medizinische Behandlung und Pflege, für den Fall, dass er*sie nicht mehr selbst entscheiden kann. Es ist jederzeit möglich, die Patientenverfügung formlos zu widerrufen. Mittlerweile steht ein vielfältiges Angebot an vorgefertigten Formularen zur Verfügung (vgl. beispielsweise https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientenverfuegung.html)
- Die Vorsorgevollmacht
die schriftliche Bevollmächtigung einer Person, welche stellvertretend für den*die Klient*in Entscheidungen treffen darf, falls diese nicht mehr selbst entscheiden kann.
- Die Betreuungsverfügung
ein Schriftstück, welches erklärt, wer unter Voraussetzung, dass ein*e gesetzliche*r Betreuer*in eingesetzt werden muss, zur Auswahl stehen sollte (Bozarro 2022).
Nicht einwilligungsfähige Klient*innen haben ihrem Alter, ihrer Reife und ihren kognitiven Fähigkeiten entsprechend Informationen über die geplanten Maßnahmen zu erhalten.Wenn die Möglichkeit besteht, sollte zusätzlich zur Einwilligung der Stellvertreter*innen ebenfalls deren Zustimmung zu den Maßnahmen angestrebt werden. ( von dem Berge / Simon et. al. 2020).
Quellen
Bozzaro, Claudia (2022), Vorlesung Geschichte Theorie und Ethik der Medizin. 2.Vorlesungssitzung: Einführung in die Medizinethik. Philosophische Ethiktheorien, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, WiSe 2022/2023, 02.11.2022.
von dem Berge, Ellen / Simon, Alfred et. al. (2020), Ethik in der Ergotherapie. Handlungshilfe zur ethischen Situationseinschätzung im beruflichen Alltag, Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V. (Hg.), Karlsbad.