
Bevor Marian und Gregorian zuhause ankamen, schaute der Herrscher der Unterwelt Mictlantecuhtli auf dem kleinen Bauernhof vorbei. Er erschien dem Vater der Zwillinge Archimedes in seiner Werkstatt. Mictlantecuhtli sprach ihn an: „ Seid gegrüßt Archimedes! Erinnert Ihr Euch noch an mich?“ Archimedes überlegte kurz und erwiderte: „ Ihr seid doch Mictlantecuhtli, der Herrscher der Unterwelt oder irre ich mich da?“ „ Genau richtig. Ich habe Euch damals aus der Patsche geholfen und so wie es aussieht, ist es jetzt wieder soweit.“
Archimedes wusste sofort, welche Situation aus seiner Vergangenheit Mictlantecuhtli meinte und fragte nach: „Ist irgendetwas ans Tageslicht gekommen?“ „ Noch nicht. Aber wenn Ihr nichts unternehmt, werdet Ihr auffliegen.“ „Das darf auf keinen Fall passieren.“ „Dann empfehle ich Euch, dass Ihr untertaucht.“ „Wo soll ich denn hin?“ „Ich würde Euch vorschlagen, dass Ihr Morrigan aufsucht.“ „ Ach du liebe Zeit nein! Nicht Morrigan! Bei der weiß man doch nie, was sie mit einem anstellt. So eine wandlungsfähige, geheimnisvolle Gottheit hat man selten gesehen: die graue Alte, die schöne junge Verführerin, die dunkle Todesbotin, der schlaue Rabe, Geisterkönigin, sie vereinigt die Aspekte Krieg und Sexualität etc. pp.“
Mictlantecuhtli staunte nicht schlecht, was der kluge Archimedes so alles über Morrigan wusste und erklärte darauhin: „ Das stimmt schon alles, was Ihr über Morrigan erzählt, aber ich versichere Euch, dass sie Euch kein Haar krümmen wird. Bei ihr seid Ihr sicher. Ich bringe Euch auch zu ihr.“ „Also gut. Ihr habt mir einmal geholfen, ich denke, dass ich Euch vertrauen kann.“ „ Dann worauf noch warten? Vamos! Geht einfach die Treppe hinauf, die vor Euch erscheint und schon bald seid Ihr bei Morrigan!“
Archimedes saß bereits bei Morrigan am Abendessentisch, als seine Söhne den Bauernhof betraten. Gregorian, Marian und ihre Mutter Adrastea suchten den ganzen Abend bis nach Mitternacht den gesamten Bauernhof mitsamt der Umgebung nach Archimedes ab. Sie schrien sich dabei die Kehle aus dem Hals. Vor lauter Gesuche vergaßen die drei sogar das Abendessen und ihren Hunger.
Schließlich meinte Adrastea jedoch: „Das macht alles keinen Sinn mehr. Wir suchen jetzt seit bestimmt vier oder sogar noch mehr Stunden euren Vater. Das Abendessen, das ich vor Stunden gekocht habe, ist jetzt defintiv schon wieder kalt. Auch wenn es jetzt bereits ein Uhr nachts ist, sollten wir, bevor wir ins Bett gehen, noch etwas Warmes zu uns nehmen. Spagetthi alla Carbonara ist in der Mikrowelle schnell warm gemacht. Archimedes suchen wir dann weiter, wenn wir ausgeschlafen sind.“ Was Adrastea gesagt hatte, wurde – wie eigentlich immer auf dem Bauernhof – auch umgesetzt und dreimal dürft ihr raten warum? Na ganz klar, weil Mutter mehr weiß.
Archimedes hatte es bei Morrigan ganz gut. Mictlantecuhtli hatte ihm also nicht zu viel versprochen. Sogar ein eigenes Zimmer mit einem eigenem Bett hatte Archimedes in Morrigans kleinem schwarzen Schloss. Wer hätte das bei einer solch zwielichtigen Göttin für möglich gehalten? Nicht das ihre Gutmütigkeit noch nach hinten losgeht und Morrigan zusammen mit Mictlantecuhtli eigentlich vorhat, Archimedes auf hinterhältigste Art und Weise um die Ecke zu bringen? Hatte Melampus die Zwillinge nicht vor Mictlantecuhtli gewarnt? Apropos Melampus. Was treibt der eigentlich?
Ja sonderlich viel war Melampus bis jetzt in seiner Stube nicht eingefallen. Er saß die ganze Nacht wach und versuchte herauszufinden, was Mictlantecuhtli und Dionysos im Schilde führen und wie er die Zwillinge vor Unheil bewahren kann. Bereits vor fünfzehn Jahren hatte er die Sehergabe erworben. Wie er zu dieser kam?
Vor seinem Haus befand sich eine Eiche und in dieser gab es ein Schlangennest. Seine Diener Petros und Panos töteten die ausgewachsenen Schlangen und Melampus verbrannte sie. Die Jungtiere zog er auf. Eines Tages leckten ihm diese im Schlaf die Ohren. Infolgedessen verstand er die Sprache der Tiere. Von da an war er in der Lage, mit Hilfe dieser die Zukunft vorauszusagen. Zudem lernte er, aus Tieropfern weiszusagen.
In der Vergangenheit konnte er bereits viele wichtige Dinge in Erfahrung bringen. Diesmal gelang es ihm aber einfach nicht, irgendetwas herauszufinden. Er wusste nur, dass der tote Ampelos nun am Flussufer des Rheins lag. Und was möchte uns das jetzt sagen?
Als die Nacht nun vorbei war und der Wecker neun Uhr morgens anzeigte, stand sowohl Archimedes auf, als auch Marian, Gregorian und Adrastea. Morrigan hatte für sich und Archimedes Frühstück zubereitet und beide aßen wie am vorherigen Abend zusammen. Marian, Gregorian und ihre Mutter deckten gemeinsam den Frühstuckstisch und dann, gerade als sie mit dem Essen fertig waren, klopfte es an der Haustür. Adrastea sprang von ihrem Stuhl auf und rannte zur Haustür. Nachdem sie geöffnet hatte, erschrak sie. Es war nicht – wie sie erhofft hatte – Archimedes, sondern eine seltsam aussehende Gestalt, die sich mit Mictlantecuhtli vorstellte.
Was wollte Mictlantecuhtli nun von den drei? Archimedes weiter behilflich sein oder verfolgte er ganz andere Ziele? Was zumindest schonmal klar war, dass er Adrastea anlog, indem er ihr sagte, dass sie sich keine Sorgen um Archimedes machen müsse, dieser hätte nur kurzfristig auf eine Dienstreise gemusst. Da dieses tatsächlich häufiger vorkam, glaubte Adrastea Mictlantecuhtli.
Dann fragte sie ihn noch: „Wollt Ihr nicht noch hineinkommen und ein Stück Kuchen mit uns essen?“ Er entgegnete ihr allerdings: „Das ist sehr nett von Euch, aber ich kann die Unterwelt nicht so lange alleine lassen.“ „ Ihr kommt aus der Unterwelt?“ „Ja sicher, ich bin doch der Herrscher der Unterwelt.“ „Das wusste ich gar nicht. Ich habe schon mal von Persephone, der Herrscherin der Unterwelt gehört, aber von Ihnen Mictlantecuhtli noch nie.“ „Das ist doch zum Mäusemelken. Persephone kennt man, aber von mir dem überaus weisen Mictlantecuhtli hat noch nie irgendwer auch nur irgendwas gehört, gesehen, gerochen…“ „Aber Persephone ist doch Eure Frau?“ „Nein, verflucht und zugenäht, das ist sie nicht! Sie ist mit Pluto, diesem Trottel verheiratet. Entschuldigt mich, gnädigste Frau, ich muss jetzt wirklich los. Ich wünsche Euch und Euren Kindern noch einen schönen Tag.“ Weg war Mictlantecuhtli.
Adrastea dachte nach: „ Ach du liebe Zeit, was ist denn da in der Unterwelt los? Warum steht plötzlich der Unterweltsgott vor der Haustür und sagt, dass Archimedes auf Dienstreise ist? Seltsam, seltsam.“ Dann kehrte Adrastea an den Frühstückstisch zurück, an welchem die Zwillinge die ganze Zeit gesessen und zugehört hatten, was Mictlantecuhtli und ihre Mutter besprachen. Adrastea saß gerade, da fing Marian auch schon an: „Wir kennen Mictlantecuhtli. Wir sind ihm im Wald begegnet. Ein komischer Typ, wenn Ihr mich fragt, Frau Mama.“ Gregorian und Adrastea nickten, sagten aber erstmal nichts.
Mictlantecuhtli machte sich anders als gesagt, nicht auf den Weg in die Unterwelt, sondern zu Archimedes. Der Unterweltsgott teilte Archimedes mit, dass Marian, Gregorian und Adrastea nun davon ausgehen, dass er auf Dienstreise ist. Archimedes erwiderte daraufhin: „Herzlichen Dank für Eure Hilfe“ „Ich helfe Euch doch gerne, aber nun ist es an der Zeit, dass ich Euch jemanden vorstelle.“