Eine Viertelstunde Fußweg vom Benediktinerinnenkloster Ellaburg entfernt befand sich das Dorf Einerwald. Dort lebten Wilhelmina und Konstantin. Wilhelmina, deren Mutter bei ihrer Geburt gestorben war, war Konstantins einziges Kind und wurde der Obhut einer ruhigen und bedachtsamen älteren Frau namens Adelheid anvertraut. Konstantin, der Berater des Königs Balduin war, verpflichtete eine Reihe von Lehrern und stellte einen täglichen Stundenplan auf, welcher wohl einen Universalgelehrten entmutigt hätte: Griechisch, Latein, Spanisch, Französisch, Italienisch, Astronomie, Philosophie und Geschichte. Sie lernte Zeichnen, Malen und Komposition der Lyrik. Sie hatte Unterricht in Religion, Musik, Stickerei und Tanz. Wilhelmina wurde Gefährtin ihres Vaters. Zusammen lasen sie und studierten die Sterne und beim Essen prüfte er ihr Wissen in Mathematik oder Philosophie.
Adelheids Vater, ein Musiker namens Leopold, wohnte auch in Einerwald und war oft bei ihnen. Als Wilhelmina dreizehn Jahre alt war, weihte Konstantin sie in ein Geheimnis ein – eine verborgene Kammer im Innern des Hauses. Sie war voller Bücher. Da waren der Koran der Muslime, die Tora und der Talmud der Juden, das Neue Testament der Christen und das Daodejing der Daoisten. Zu dem kamen auch buddhistische Schriften und zwei großartige Bücher über Medizin, eines von der Benediktinerin Noumea, ein weiteres von dem Perser Ibn Sina, das Buch der Heilung. Diese Bücher waren Kunstwerke, sie waren in Leder und Gold gebunden, mit komplizierten Mustern verziert, mit Messing-oder Silberschließen versehen. Zusammen lasen Wilhelmina und ihr Vater diese Bücher, vor allem das Buch von Noumea, das im Herzen ihres Vaters einen besonderen Platz einnahm.
Kurz vor Wilhelminas sechzehntem Geburtstag bekam ihr Vater einen Husten, der ihn fast zerriss, er hatte immer wieder Fieber und rang nach Luft. Wilhelmina sah ihn ganze Tage lang in dem Buch der Heilung lesen. Er glaubte fest daran, dort die Lösung zu finden und nicht in Noumeas Buch, obwohl es ihm eigentlich viel wichtiger war. Ein Heilmittel nach dem anderen probierte er aus, während er sich ein Taschentusch vor den Mund hielt und Blut hustete.
Sie las mit ihm zusammen in dem Buch der Heilung, prägte sich die Symptome ein und mischte Medizin und Salben für Brustwickel, doch sie halfen nicht langanhaltend. Bei ihren Brettspielen sah sie, dass seine Hände schmal und bleich geworden waren und zitterten, wenn er die Spielsteine setzte. Ihr Vater versicherte ihr, dass er noch nicht so bald sterben werde. Und es gab Tage, an denen er aß und umherging und wieder er selbst zu sein schien und an denen sie hoffte, dass es ihm tatsächlich besser ging.
Doch dann verschlechterte sich sein Zustand plötzlich noch einmal rapide. Konstantin nahm ihre Hand und sagte, er habe es einst bedauert, keinen Sohn zu haben, doch schon lange empfinde er dies nicht mehr als einen Verlust. Er erzählte ihr, sie sei die Letzte einer angesehenen Familie. Wilhelmina bat ihn, ihr von ihrer Mutter zu erzählen, bevor es zu spät sei, doch ihr Vater bedeutete ihr zu schweigen. Nach Luft ringend hielt er drei Finger hoch, um ihr zu zeigen, dass er ihr drei Dinge sagen müsse. Erstens: Sie solle sich niemals für ein religiöses Leben im Zölibat entscheiden, sondern heiraten und Kinder haben, auf dass ihr Geschlecht nicht aussterben möge. Zweitens: Sie sei die Erbin seines gesamten Vermögens und müsse immer auch an die Armen denken, Wohltätigkeit sei eine Pflicht und drittens… . Konstantin war nicht mehr in der Lage, den dritten Punkt zu nennen, da er vorher verstarb.
Einen Tag nach seinem Tod ging Wilhelmina zu Leopold und fragte ihn: „Kannst du mir etwas über meine Mutter erzählen?“ „Nein, leider nicht. Aber ich habe eine Idee. Du bittest den Gott der Unterwelt Pluto, dich in die Unterwelt zu lassen. Dann kannst du deinen Vater nach deiner Mutter fragen.“ „Und das soll funktionieren.“ „Keine Ahnung, aber ein Versuch ist es schon wert, oder bist du da anderer Meinung?“ „Nein! Auf keinen Fall! Was muss ich tun, damit Pluto mich in sein Reich hineinläßt?“ „Ich habe es noch nicht ausprobiert, aber ich habe gehört, dass man Pluto freitagabends zwölf Minuten vor Mitternacht ansprechen muss. Du musst dich in deinem Schlafzimmer vor dein Fenster knien und ein Gebet sprechen:
Pluto, spüre meine Trauer! Ich habe einen geliebten Mensch verloren. Hilf mir, noch eimal mit diesem Menschen in Kontakt zu treten! Ich verspreche, dass ich dich kein weiteres Mal um etwas derartiges bitten werde. Ich habe noch wichtige Dinge zu klären, damit ich weitestgehend ohne Sorge und beruhigt leben kann. Bitte, lasse mich nun in die Unterwelt einkehren, damit ich mich mit dem Verstorbenen austauschen kann! Ich danke dir zutiefst.“
„Nach diesem Gebet lässt er mich hinein in die Unterwelt?“ „Nein, dann noch nicht. Dann schickt er den Seelengeleiter Hermes. Dieser muss sich in dich verlieben und erst dann nimmt er dich mit in die Unterwelt.“ „Bitte, was!“ „Ich kann es auch nicht ändern. So hat man mir die Geschichte zugetragen“ „ Das ist ja alles schön und gut, aber ich denke nicht, dass sich Hermes in mich verlieben wird. Gibt es keine andere Möglichkeit, in die Unterwelt zu gelangen, ohne sterben zu müssen.“ Du könntest den Kentauren Johnis fragen, ob er dir hilft.“ „Wie, ich soll den Kentauren Johnis fragen? Sag mal, wie gelangen die Seelen denn eigentlich normalerweise in die Unterwelt?“
„Hermes geleitet die Seelen zu dem Fährmann Charon, der sie zur Unterwelt über die Styx, einen Fluss, hinüberfährt. Voraussetzung dafür ist eine ordnungsgemäße Bestattung und eine Münze zwischen den Zähnen, mit der Charon bezahlt wird. Geschah dies nicht, sind die Seelen dazu verdammt, 100 Jahre am Ufer zu warten, ehe sie hinübergefahren werden können. Cerberus, ein dreiköpfiger Unterweltshund, bewacht nun den Eingang zur Unterwelt, den kein Sterblicher mehr verlassen kann, außer er führt einen goldenen Zweig als Eintrittskarte mit sich. Das Betreten der Unterwelt hingegen gelingt einem Sterblichen quasi immer, vorausgesetzt er gibt Cerberus Honigkuchen zu essen.“
„Das bedeutet, wenn Hermes sich in mich verliebt hat, bringt er mich erstmal zu Charon. Zu diesem Fährmann könnte mich aber auch der Kentaur Johnis bringen?“ „Ja, das soll wohl möglich sein!“ „Wo finde ich Johnis?“ „Du musst irgendwo auf dem Lucanoberg eine Höhle suchen. Dort soll er leben“ „Tolle Angabe, aber ich werde ihn schon finden. Da bin ich guter Hoffnung. Kann ich mich denn mit Johnis ganz normal unterhalten?“ „Ich denke schon.“ „Na dann ist ja gut!“ „ Dann wünsche ich dir jetzt mal viel Erfolg beim Suchen!“ „Danke, danke!“
Wilhelmina konnte Johnis tatsächlich finden. Sie musste ihm ein Gedicht vortragen und dann brachte er sie zu Charon. Da sie keine Münze für Charon hatte, musste sie ihm ein Lied vorsingen. Erst dann fuhr er sie hinüber zu Cerberus. Zum Glück hatte sie am Vortag zusammen mit Adelheid Honigkuchen gebacken, mit welchem sie ihn zufrieden stellen konnte. In der Unterwelt angekommen, traf sie nicht auf Pluto, sondern auf seine Gemahlin Persephone.
„Liebe Herrin der Unterwelt, ich muss unbedingt noch einmal mit meinem Vater reden.“ „Und warum sollte ich dir das erlauben?“ „Vielleicht, weil Sie Mitgefühl haben“ „Falsche Antwort, liebes Kind. Du musst erst sterben und dann ordnungsgemäß bestattet werden, dann kannst du hier in der Unterwelt solange mit deinem Vater plaudern, wie du willst.“ „Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit?“ „Ich weiß nicht, was ihr Sterblichen euch da oben erzählt, aber hier ist sonst kein Reinkommen. Wenn jeder noch Lebendige, der nochmal mit seinem toten Verwandten reden will, hier hineinkäme, wo kämen wir denn da hin?“ „Können Sie nicht bei mir eine Ausnahme machen. Ich muss unbedingt wissen, wer meine Mutter war. Ich kenne noch nicht einmal ihren Namen. Mein Vater hat mir nur mal erzählt, dass sie nicht mehr lebt. Wann sie gestorben ist, weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall kann ich mich überhaupt nicht an sie erinnern. Er hat nie gerne über meine Mutter geredet. Kannst du nicht verstehen, dass ich noch mehr wissen will?“
„Ich kann dir sagen, wer deine Mutter war. Deine Mutter Helga war eine Benediktinerin. Helga entschied sich im Alter von 20 Jahren, ins Benediktinerinnnenkloster Ellaburg einzutreten“ „ Ich war noch nie in diesem Kloster, obwohl es nicht weit weg von meinem zu Hause weg ist. Und jetzt erfahre ich, dass meine Mutter dort Nonne war. Mann! Oh Mann! Aber sind Nonnen nicht der Keuschheit verpflichtet?“ „Ganz genau!“ „Und weil sie sich nicht daran gehalten hat, wurde sie umgebracht?“ „Vielleicht“ „Sie sind sehr fies“ „Ich weiß, aber ich bin die Herrin der Unterwelt, da muss man fies sein.“
„Sie wissen es aber, ob meine Mutter umgebracht wurde.“ „Natürlich weiß ich alles über deine Mutter, aber ich werde dir nichts erzählen. Du musst es in der Oberwelt herausfinden.“ „Wen soll ich denn da fragen?“ „Ich hätte dich für intelligenter gehalten. Das habe ich dir doch schon gesagt. Du verschwendest meine Zeit. Nimm jetzt diesen goldenen Zweig, um an Zerberus vorbei zu kommen! Unser Gespräch und dein Aufenthalt hier sind jetzt beendet. Menschenskind!“
Schreibe einen Kommentar